Spieglein, Spieglein in der Box

Text: Anna Castronovo

Typische Situation: Der Mensch rechnet schon damit, dass sein Pferd sich an einer speziellen Stelle erschrecken wird. Und tatsächlich: Es springt weg. Foto: Gürtler

Das kennt jeder: Unser Gegenüber gähnt und wir müssen automatisch auch gähnen, jemand lächelt uns in der U-Bahn an, und wir lächeln ohne nachzudenken zurück. Dass wir empfinden, was andere empfinden, verdanken wir bestimmten Nervenzellen in unserem Gehirn – den Spiegelneuronen. Sie machen uns zu einem sozialen, mitfühlenden Wesen.

Wie funktionieren Spiegelneuronen?

Spiegelneuronen funktionieren unbewusst. Körpersprache, Gestik und Mimik des Gegenübers senden Informationen an unser Gehirn, welches die Botschaft gemäß seiner Vorerfahrungen entschlüsselt. Es entsteht ein Abbild von dem, was wir sehen und spezifische Nervenzellen lösen die entsprechenden Gefühle in uns aus. Das Besondere daran: Die Nervenzellen senden bereits dann Signale aus, wenn jemand eine Handlung nur beobachtet. Trotzdem reagieren sie genau so, als ob man das Gesehene selbst getan hätte. Spiegelneuronen sind sozusagen ein Resonanzsystem im Gehirn, das Gefühle und Stimmungen anderer Menschen beim Empfänger zum Klingen bringt.

Spiegelneuronen gehören zur Grundausstattung unseres Gehirns. Bereits Säuglinge spiegeln ihre Mutter, wenn sie z.B. die Lippen spitzt oder lächelt. Spiegelvorgänge zwischen Mutter und Kind sind ein emotionales Grundbedürfnis. Durch sie lernt das Baby, seine eigenen Gefühle zu spüren und zuzuordnen – eine wichtige Voraussetzung für das spätere soziale Leben.

Die Entdeckung der Spiegelneuronen lieferte auch erstmals eine Erklärung für das Phänomen der Intuition. Denn ohne intuitive Gewissheiten darüber, was als nächstes passieren wird, wäre ein Miteinander undenkbar. So reichen wenige Signale, um aus den Bewegungen anderer Personen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Ein Beispiel: In einem vollen Kaufhaus erkennen wir intuitiv, wohin die anderen Menschen sich bewegen werden und reagieren entsprechend darauf. Spiegelneuronen lassen uns also erahnen, was unser Gegenüber als nächstes tun wird. So ist es möglich, dass wir durch ein volles Kaufhaus gehen, ohne ständig mit anderen zusammenzustoßen.

Wer selbst mit den Gedanken woanders ist, kann nicht erwarten, dass sich sein Pferd auf ihn oder seine Aufgabe konzentriert. Foto: Castronovo

Warum können Pferde uns spiegeln?

Die Wissenschaft geht davon aus, dass diese non-verbale Kommunikation auch bei Tieren existieren muss, die in Schwärmen auftreten, wie Zugvögel oder Fische. Außerdem wurden Spiegelvorgänge bei vielen, in sozialen Gruppen lebenden Wirbeltieren beobachtet – zum Beispiel bei Pferden.

„Pferde sind in besonderem Maße Gemeinschaftswesen“, sagt Psychologin und Hippotherapeutin Heidi Zöller, die eine Diplomarbeit mit dem Titel „Das Pferd als Spiegel innerpsychischer Prozesse – Chancen menschlicher Entwicklung“ geschrieben hat. „Soziale Bindungen und freundschaftliche Beziehungen sind ihnen sehr wichtig. Außerdem ist es für das Fluchttier überlebenswichtig, dass alle Herdenmitglieder gleichzeitig und koordiniert reagieren können, wenn Gefahr droht.“ Deshalb verfügen Pferde über ein vielschichtiges Kommunikationssystem, das nicht nur über sichtbare Gesten wie z.B. Mimik oder Körperhaltung funktioniert, sondern auch feinste Signale wie Muskelkontraktionen oder die Intensität der Atmung umfasst. Pferde können aus großer Entfernung und sehr schnell ein Urteil fällen, ob dort drüben ein Freund oder ein Feind steht.

Genauso sensibel wie Pferde sich gegenseitig beobachten, nehmen sie auch uns Menschen wahr. „Unsere Bewegungen, unser Gesichtsausdruck, die Stimme und Haltung drücken den Zustand unseres Nervensystems aus“, erklärt Heidi Zöller. „Wer sich ärgert, hat oft einen angespannten Unterkiefer, hält die Atmung zurück, ballt die Fäuste, hat einen steifen Nacken und abgehackte Bewegungen. Heiterkeit zeigt sich hingegen durch eine ruhige Atmung und ein lächelndes Gesicht.“ Der Knackpunkt: Wir selbst nehmen diese Veränderungen oft nicht wahr, das Pferd aber sehr wohl. Deshalb übertragen sich unsere Stimmungen und Emotionen sehr schnell und deutlich auf unser Pferd. Ein einfaches Beispiel, das sicher jeder Reiter kennt: Du führst dein Pferd über den Hof. Weil es an einer bestimmten Stelle einmal heftig erschrocken ist, machst du dir Gedanken darüber, ob das vielleicht wieder passiert. Und wirklich: Dein Pferd springt dort ständig weg. Wenn aber ein anderer Mensch das Pferd führt, der nichts von dem Vorfall weiß, läuft dein Pferd völlig entspannt an besagter Stelle vorbei.

Wie profitieren wir vom Spiegeln?

„Spiegelprozesse gehören zum Grundaufbau von Mensch und Pferd, deshalb finden sie ständig und immer statt“, sagt Heidi Zöller. Und noch etwas ist entscheidend bei der Funktionsweise dieser Nervenzellen: Haben wir die Emotionen der anderen Person empfangen, vergewissern wir uns unbewusst darüber, ob die Gefühle, die wir empfinden, beim anderen auch echt sind. Dabei können sich Menschen zwar gegenseitig etwas vormachen, Pferden aber in der Regel nicht. Denn sie haben eindeutig feinere Antennen als wir und ein willkürlicher Emotionsausdruck, zum Beispiel löst ein aufgesetztes Lächeln beim Pferd keine echten Emotionen aus. „So ein Höflichkeitslächeln bewegt zwar die Gesichtsmuskeln, es fehlt aber die emotionstypische Erregung“, erklärt die Diplompsychologin. „Und diesen Unterschied spüren Pferde ganz genau.“ Mit anderen Worten: Unser Pferd spiegelt immer unsere echten, tiefen, ehrlichen Gefühle wieder, und nicht das, was wir vorgeben zu sein.

„Damit hilft es uns Menschen, die wir im Alltag allzu oft rational sein und funktionieren müssen, wieder Zugang zu unserer Gefühlswelt zu bekommen“, so Zöller. „Pferde haben sozusagen Zugang zu unserem wahren Wesen und besitzen die Fähigkeit, dieses hervorzubringen.“ Bei Pferden selbst sind Gefühl und Affekt übrigens nicht getrennt, das heißt, sie können sich gar nicht verstellen. Dazu kommt, dass sie uns nicht nach unserer Leistung bewerten, sondern nur auf das reagieren, was wir tatsächlich sind. Wir müssen ihnen nichts beweisen. „Vielen Menschen fällt es deshalb leichter, beim Pferd einfach nur sie selbst zu sein“, weiß die Psychologin. „Der Umgang mit Pferden fordert einen wachen und reaktionsbereiten Zustand. Damit hält es uns sprichwörtlich im Hier und Jetzt fest.“ Denn sobald wir mit den Gedanken abschweifen, finden minimale Veränderungen unserer Muskulatur und Atmung statt, die das Pferd wahrnimmt – und sofort spiegelt, zum Beispiel, indem es sich selbst auch nicht mehr auf die Aufgabe oder auf uns konzentriert. „Wir müssen also ganz bei uns selbst und beim Pferd sein, wenn wir etwas mit ihm machen, und das empfinden viele Reiter als totales Abschalten vom Alltag, was sie nur im Stall schaffen“, erklärt Heidi Zöller.

Kurzum: „Das Pferd fordert im täglichen Umgang von uns, dass wir uns unseren Gefühlen und unserer körperlichen Präsenz stellen und diese miteinander in Einklang bringen“, sagt sie. „Dann kann diese totale Einheit mit dem Pferd entstehen, dieser Flow, den Reiter oft als die erfüllendsten Momente mit ihrem Pferd beschreiben.“

„Spiegelprozesse gehören zum Grundaufbau von Mensch und Pferd, deshalb finden sie immer statt“, sagt Diplompsychologin und Hippotherapeutin Heidi Zöller. Foto: Meike Boehm

Autor

Anna

Gelernte Journalistin, die ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht hat: Anna schreibt über Reitlehre, Zucht & Sport, Medizin, Haltung & Fütterung. Sie reitet von Kindesbeinen an und besitzt ein eigenes Pferd.

Kommentare

Einen Kommentar schreiben

* Pflichtfelder müssen ausgefüllt werden

Zurück